Samstag, 24. Januar 2009
 
Entweder oder – ein Gegenmanifest PDF Drucken E-Mail
Geschrieben von Hermann Klosius   
Montag, 11. Juni 2007

In Antwort auf die Berichterstattung der Wiener Stadtzeitung Falter (Nr.22/07, Artikel "Ganz oder gar nicht" von Wolfgang Kralicek) protestieren die freien Theater- und Tanzschaffenden Wiens durch das folgende Manifest, in dem sie "im Namen aller Betroffenen" im FALTER-Artikel "(absichtlich?) nicht zur Sprache gebrachte Fakten" zur Diskussion stellen.

Viele der zur Zeit als "leer" ausgegangen bezeichneten KünstlerInnen und Gruppen haben bisher keine schriftlichen Absagen bekommen! Woher bezieht der Journalist Kralicek seine Auskünfte? (Gibt es geheime Treffen, Vereinbarungen, Pressekonferenzen?)

Im übrigen ist die Zuschreibung "leer ausgegangen" eine undifferenzierte, absolutistische Behauptung des Kuratoriums, denn viele Projekte und Gruppen werden von anderen Förderstellen – Bund, EU, Länder, Bezirke, andere Magistratsabteilungen der Stadt Wien usw. – sehr wohl als "Kunst" und "künstlerisch förderungswürdig" eingestuft und finanziert!

Das neue Kuratorium für die Wiener Off-Szene verfügt nach unserer Meinung weder über ein ausreichendes Konzept noch eine historisch fundierte Definition von freiem Theater und Tanz! Wie in dem Artikel zum Ausdruck kommt, wird die sogenannte "freie" Szene lediglich als Sprungbrett für das Burgtheater gesehen (siehe Empfehlung einer Kollegin, die zur "Gewinnerin" erkoren wurde, eben dorthin!). Einerseits wird eine Hierarchie (gläserne Decke)  zwischen den Bereichen OFF und ON (frei und nicht frei) behauptet, die in anderen Ländern längst überwunden ist, andererseits das modische Ranking (aus Sport und Entertainment) in die seriöse Kunstpolitik eingeführt!

Einigen KünstlerInnen wurden  für  das Produktionsjahr 2007 Förderungen ganz abgesagt, anderen gleichzeitig vage für das Jahr 2008 eine Subvention in Aussicht gestellt. Wie sollen diese KünstlerInnen überleben? Wieder andere Gruppen erhielten einen Absagebrief mit dem Vorschlag, um weniger Geld noch einmal einzureichen. (Ganz oder gar nicht?)

Die "Hearings" mit den KuratorInnen, die laut Gerücht überhaupt nur mit den vorher bestimmten "VerliererInnen" geführt wurden, waren keine Dialoge auf Augenhöhe! Wie sollte das auch sein in einer "verhörartigen" Raumsituation und in einem Klima der Aggression, die primär auf Aburteilungen von KünstlerInnen und ihrer Arbeit aus waren, ohne dabei auf Details der eingereichten Projekte einzugehen? (Dafür gibt es Dutzende Beispiele.)  Künstler und KünstlerInnen wurden als BittstellerInnen behandelt, denen keine Chance zur professionellen Artikulation gegeben wurde.  Was ist Sinn und Zweck solch beschämender "Gespräche", die völlig undemokratisch und unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden? Sie sind prinzipiell abzulehnen, weil sie menschenunwürdig sind!

Die unausgesprochene Botschaft des denunziatorischen Umgangstons der KuratorInnen mit KünstlerInnen war: "KOMMT NIE WIEDER!" bzw. "IHR HABT AUSGEDIENT!" Mit der respektlosen und unprofessionellen Vorgangsweise soll einer ganzen Generation in der Mitte ihrer künstlerischen Entfaltung die Zukunftsperspektive genommen, sollen autonome Räume zerstört und das gewachsene Publikum vor den Kopf gestoßen werden.  Unter den (bislang weitgehend gerüchteweise) Abgelehnten sind die Pioniere der freischaffenden Wiener und Theater- und Tanzszene, ohne die es historisch weder das WUK, dietheater, Theater des Augenblicks, Odeon, Kosmos Theater, Kabelwerk, TQW noch viele andere alternative Aktionsräume der letzten 30 Jahre geben würde.

Das Kuratorium agiert nicht im Sinne der KünstlerInnen, sondern entwickelt sich zunehmend zum Handlanger einer von oben verordneten Spar- bzw. Umverteilungspolitik. Es werden viele KollegInnen, die offen diskursiv und kritisch agieren, von vornherein ausgeschaltet; auffällig ist statistisch die Anzahl von Frauen über 40 sowie von gesellschaftspolitisch aktiven und interkulturell engagierten KünstlerInnen und Gruppen, die abgelehnt werden. Die Besetzung des Kuratoriums folgt Auswahlkriterien, die entgegen der Absicht der ursprünglichen Studie für die "Wiener Theaterreform" intransparent waren (welche Qualifikation lagen zu Grunde?), in erster Linie für die Politik und nicht die Kunst arbeiten. (Z. B. wurde eine potentielle Kandidatin, die sich weigerte, bestimmte zum Abschuss frei gegebene Gruppen "abzusägen", nicht ernannt!)

Die von der Sozialdemokratie und ihrer Kulturpolitik über Jahrzehnte gestellte Forderung nach Aufstockung der Budgets für  freischaffende Kunst wurde offenbar bereits fallen gelassen. Es wird nur mehr über die Umverteilung von unten nach oben verhandelt –  wie in der Wirtschaft. Hier zeigt die "Theaterreform" ihren neoliberalen Charakter. Das Kuratorium arbeitet jenen Kräften in die Hände, die eine Monopolisierung und Festivalisierung von Kunst und Kultur anstreben, wonach in einigen Jahren nur mehr ein schwammiger Mainstream übrig bleiben soll, der den ökonomischen Standort Wien aufwerten soll – mit Projekten, die durchaus zeitgeistig mit avantgardistischen Elementen aufgepeppt sein können.  Gesellschaftskritische KünstlerInnen, so sie darin einen Platz finden wollen, sollen in das Heer der disneylandisierten Kunst- und KulturarbeiterInnen eingegliedert werden. Dies ist eine reine vermaktungstechnisch orientierte Sichtweise, die wesentliche Fundamente freier Kunst – nämlich Forschung und Experimente zu betreiben – a priori ausschließt!  Ein Choreograf formulierte trefflich: "Sollen wir demnächst für unsere Projekte bei den VeranstalterInnen um Förderungen ansuchen müssen?!"

In der Darstellung des Artikels im FALTER ist der soziale Aspekt eindeutig negativ besetzt, was allen sozialdemokratischen Grundsätzen widerspricht!  Kunst ist prinzipiell gesellschaftsbezogen oder -kritisch, zugleich sozial, ästhetisch und lustvoll – ob es sich nun um Mozart oder Nitsch handelt!  Sozial engagierte Kunst ist keine Erfindung alternativer Kunst seit den 60er und 70er Jahren, aus der zeitgenössische freie Theater- und Tanzschaffende herausgewachsen sind.  Gerade in diesem Bereich aber ist die Trennung zwischen "sozial" und "künstlerisch" wenig zutreffend. (Dass heute hunderte KünstlerInnen prekarisiert oder existenziell gefährdet sind, ist wohl der einzig zulässige rein soziale Aspekt, der zu diskutieren und zu korrigieren ist!)

Wir stehen nach vier Jahren am unrühmlichen Ende der Theaterreform – und vor einer kulturellen Demokratiekrise, die weit hinausreicht über Fragen des freien Theaters und Tanzes.  Das Argument, alle Abgelehnten seien "schlechte KünstlerInnen" und deshalb nicht förderungswürdig, gilt nicht, denn wenn jemand über Jahrzehnte anerkannte Kunstprojekte macht und ein angestammtes Publikum hat, ist das inkompetent!  Es kann sich also nur darum handeln, eine bestimmte Art von Kunst "nicht mehr zu wollen"! Darüber könnte man/frau diskutieren – ein Diskurs, der vom Kuratorium jedoch verweigert wird.  Angewandte Beurteilungsvokabeln wie "innovativ, festivalkompatibel, zeitgemäß" oder schlicht "glaubhaft" erfüllen die verantwortungsvolle Aufgabe, Millionen von Euro in einem dreiköpfigen Gremium in die Hand zu nehmen, keineswegs!

Wir protestieren scharf gegen den kulturellen Ausnahmezustand, der von der "Theaterreform" bewusst/unbewusst produziert wurde, denn in einer Situation von "Angst und Schrecken" (existentielle Lebensbedrohung) ist von Kreativität nicht zu sprechen.

Die freie Theater- und Tanzszene benötigt völlig neue und ihrer Arbeitsweise angemessen Beurteilungskriterien (Einzelprojekt-Förderungen stehen einer Forschungsarbeit entgegen, solange es keine langfristigen und nachhaltigen Beurteilungen und Förderungsmodalitäten gibt!).  Zu schaffen sind themenspezifische "Fördertöpfe zu verschiedenen aktuellen Schwerpunkten zeitgenössischer Kunstpraxis – wie Interkulturelles, Frauen, Armutsbekämpfung, Globalisierung, etc. Im freien Kunstbereich nach den Linien "schlecht" oder "gut" zu beurteilen, ist sinnlos und gefährlich, weil tendenziell ausgrenzend und experimentier-unfreudig! Ziel wäre ein völlig neues System der Mittelvergabe durch Etablierung von (Künstler-)selbstbestimmten Kriterien, die zusätzlich von Sach- und Grenre-spezifisch diversifizierten Gremien beurteilt werden. Basis muss eine verantwortliche Kulturpolitik sein, die aktiv eingreift, ihre Leitlinien offen legt, Zielvorgaben ausweist und für die Umsetzung zeichnet, anstatt sich hinter diffusen Beraterstrukturen zu verstecken.  

Wie die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz kürzlich bei einer der laufenden Protestveranstaltungen betonte: "Eine Demokratie – zumal eine der reichsten der Welt –, die sich ihre kritischen KünstlerInnen nicht mehr leisten will, ist keine Demokratie!"

- Unterzeichnete: Betroffene KünstlerInnen der freien Theater- und Tanzszene, Ad Hoc Komitee (oder Konsulat) besorgter KulturarbeiterInnen

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